Dafür haben wir Lesen gelernt! (*)

“Das achte Leben” von Nino Haratischwili

Bei 1.280 Seiten zwischen zwei dunkelblauen Buchdeckeln überlegt man gut wann Zeit und Muse für konzentriertes, ausdauerndes Lesen zu finden sind. Da war das Einleseheft mit 100 Seiten Vorschau und Zusatz-Informationen eine gute Idee des Verlags. Dieser Appetitmacher hatte mir genügt “Das achte Leben” in die persönliche AusLese 2014 aufzunehmen.

Nach Leipziger Buchmesse, österlicher Wienreise und mitten im heftigen Frühlingsausbruch in Wald, Flur und Vorgarten, war offensichtlich der richtige Moment für die vollständige Lektüre gekommen. (Vielleicht bestimmen gute Bücher ja selbst, wann sie gelesen werden wollen.) Einmal angefangen, fiel das Dranbleiben nicht schwer. Dieses Buch, seine kraftvollen Episoden und die Passagen zum historischen Hintergrund des Geschehens, vor allem aber die von der Autorin belebten Protagonisten, lassen so schnell nicht wieder los. Das eindruckvollste Lese-Erlebnis seit langem. Deshalb schreibe ich jetzt im Blog darüber, wenngleich eigentlich Anderes an der Reihe gewesen wäre. Über dieses Buch wird jeder schreiben müssen, der über sein Lesen schreibt.

Es ist die Geschichte der georgischen Familie Jaschi und der Menschen in ihrem Umfeld. Die 34-jährige Niza erzählt aus der Sicht des Jahres 2007 ihrer Nichte Brilka von den gemeinsamen Verwandten und Vorfahren. Nizas Schwester Daria, der Mutter Elene, den Großeltern Kostja und Nana, Kostjas Mutter Stasia und wiederum deren Eltern, die als angesehene Konditoren und Chocolatier im Georgien um 1900 ein großbürgerliches Leben führten. Von Ihnen stammt das in der Familie gehütete Geheimrezept für eine dunkle Trinkschokoladen-Zubereitung mit rauschartiger Wirkung. Ein ebenso süßer, wie verführerischer und riskanter Genuss mit Sucht- und erstaunlichem Konfliktpotential.

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Foto: Kritzolina

Als Leser begleiten wir die Großfamilie durch die Generationen, erfahren von Plänen und Zerwürfnissen, von Glücksmomenten und Fehlentscheidungen, vor allem jedoch, dass es hauptsächlich die Abgründe dieses schwierigen Jahrhunderts sind, die alle Lebensentwürfe beeinflussen. Von der Idylle wandelt sich das Geschehen immer wieder zu alptraumartigen Passagen, dabei werden die Grenzen und Möglichkeiten verschiedener Arten von Liebe und Partnerschaft, von Hass und Zuneigung, von Anziehung und Abstoßung erkundet.

Zu den wichtigsten Schauplätzen gehören die georgische Hauptstadt Tbilissi (Tiflis), aus der auch die Schriftstellerin stammt, Moskau, Leningrad, London, die Schwarzmeerküste. Und die Stadt Wien. Als Sehnsuchtsort und Fluchtpunkt spielt sie eine besondere Rolle. Eine Flucht nach Wien steht am Anfang des Romans, für eine andere Hauptfigur wird die Stadt lebenslanger, unerreichbarer Traum bleiben. “Ich hatte immer eine Schwäche für Wien. Ich blühe hier auf. Ich mag die Genusskultur. Ich würde gerne einige Zeit lang hier leben. Allein schon wegen der herrlichen Süßigkeiten”, sagte Nino Haratischwili in einem Interview mit dem “Kurier”.

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Wien spielt eine wichtige Rolle in Nino Haratischwilis Roman „Das achte Leben“

Mit ihren 32 Jahren ist sie bereits eine sehr erfahrene Autorin und eine bemerkenswerte Persönlichkeit mit interessantem Werdegang. 1983 in Tiflis (Tbilissi) geboren, kam sie 1991 erstmals mit den Eltern nach Deutschland, kehrte zwischenzeitlich noch einmal nach Georgien zurück und lebt seit 2003 in Hamburg. Sie hat Regie studiert und bereits mehrere Theaterstücke geschrieben. “Juja” heißt ihr erster, 2010 erschienener Roman, mit dem sie auf der Longlist zum deutschen Buchpreis stand. “Mein sanfter Zwilling” folgte 2011. Haratischwili hält sich immer wieder einige Wochen in Georgien auf und sieht sich als Grenzgängerin zwischen den Kulturen. Der Wechsel der Schreibsprache ist ihr mühelos gelungen. Bereits in der Schule lernte sie Deutsch und erzählt heute bei Lesungen, dass in Georgien tradtionell ein großes Interesse an deutscher Literatur besteht.

Was macht den Reiz des Buches aus? Sind es die eigenwilligen Frauengestalten, die hilf- und orientierungslosen Männer, das für uns fremde, sehr exotisch wirkende Land Georgien? Oder die enormen epischen Fähigkeiten der Verfasserin? Sie hat gründlich recherchiert und versteht es sehr gut zeitgeschichtliche Ereignisse in die Handlung zu integrieren ohne dass es zu ermüdenden Erzählbrüchen kommt. Sachkundig schreibt sie über Spezialgebiete, wie die Schokoladenherstellung oder die westliche Pop-Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In bester Roman-Tradition verwendet sie Leitmotive und beherrscht als versierte Theaterautorin gekonnt das dialogische Schreiben. Als Haratischwili 2010 den Adalbert-von-Chamisso-Preis für ihre Theaterarbeiten erhielt lobte die Jury ihr außergewöhnliches “Gefühl für Spannung und Rhythmus” und ihre gekonnte Art “Politisches und Familiär-Privates” zu verbinden. Auf ihr großes Prosawerk trifft genau dies ebenso zu.

“Ja, wenn der Osten einen einmal umarmt und festgehalten, wenn man sich einmal am Osten verschluckt hatte, dann blieb er.” In “Das achte Leben” erzählt Nino Haratischwili unser 20. Jahrhundert ganz neu. Seine Härte, Brutalität und Gnadenlosigkeit, mit allen Verwerfungen und Abartigkeiten. Souverän aus einem für uns ungewohnten östlichen Blickwinkel. Nicht aus russischer oder sowjetischer Perspektive, obwohl die Geschichte der ehemaligen Sowjetunion natürlich eine große Rolle spielt im Leben der Jaschis und Co., sondern aus georgischer. Georgien, das vielfach gebeutelte Land, das so ganz anders ist als der große Nachbar Russland. Ein südlich geprägtes Land zwischen Schwarzmeerküste und Bergregionen, bewohnt von Menschen mit sehr eigener Identität, eigener Sprache und Schrift, gewachsenen Tradtionen, ausgeprägter Kultur.

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Das heutige georgische Staatsgebiet

Über weite Strecken ist das alles andere als eine heitere Lektüre. Wie wenig sich von den Träumen, Hoffnungen und Plänen der Hauptfiguren, vor allem der Frauen, verwirklicht unter dem Einfluss von Kriegen, Revolutionen und Diktaturen, droht jeden mitfühlenden Leser in Verzweiflung zu stürzen. Dennoch dürfen wir jubeln. Endlich wieder einmal weitausholende, umfangreiche Epik in bester Erzähltradition. 1.280 Seiten, die von der ersten bis zur letzten fesseln. Kein luftig-leichter Schmöker, kein effekthaschender Krimi, kein oberflächlicher Historien-Reiser, keine wortschatzarme Pubertätserotik. Große Literatur, die ein breites Publikum verdient hat. Es ist zu hoffen, dass es viele Mitleser gibt, die den langen Atem für dieses Lese-Abenteuer haben.

Gegen Ende kommt das Buch im 21. Jahrhundert an und damit bei der Jüngsten in der Generationen-Reihe. Brilka, die Nichte von Niza, die Ururenkelin von Stasia. Sie ist jung, noch fehlen ihre Seiten im Buch, ihr Leben wird erst geschrieben. Niza hat uns als Erzählerin durch sieben Leben und ein ganzes Jahrhundert geführt, teils wissend, teils spekulierend, ihre Zweifel an der Wahrheitsfindung mit den Lesern teilend. Wie scheinbar unausweichliche geschichtliche Prozesse und vorgegebene familiäre Konstellationen mit den individuellen Optionen und Schicksalen umgehen, davon erzählt dieses Buch von Nino Haratischwili. Der rasante Erzählfluss, die Dichte der Ereignisse, reißt uns mit, fasziniert, macht traurig und unterhält dabei bestens. Die europäische Literatur ist ab sofort um ein großes Werk reicher. “Das achte Leben” – hätten wir nur dafür Lesen gelernt, es hätte sich schon gelohnt. (*)

Haratischwili, Nino: Das achte Leben (Für Brilka). – Frankfurter Verlagsanstalt, 2014. Euro 34.

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(*) Um Missverständnissen vorzubeugen: Für Thomas Manns Buddenbrooks, seines Bruders Heinrich Untertan, Hermann Hesses Glasperlenspiel, Tolstois Krieg und Frieden, die Werke Dostojewskis, Werfels derzeit wieder aktuellen Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh, für Bang, Lagerlöf und Strindberg, für Steinbeck und Sinclair Lewis, für Dickens, Proust und Arno Schmidt, für die Formulare der Steuererklärung, die Gebrauchsanweisung des Kaffee-Vollautomaten, die Liste der Zusatzstoffe im Packungs-Käse, für meist wenig hilfreiche Hilfeseiten der PC-Software, die Speisekarte im Stammlokal, für Brief und Mail der Liebsten oder des Liebsten, für das erste Buchstabengekritzel des eigenen Kindes, für die Parole an der Wand, das Motto des Tages, die Gedichte von Mörike, Rilke oder Jan Wagner, die Essays von Jonathan Franzen, Ingo Schulze und Marcel Beyer, die Inschriften auf Grabmalen – ja, auch dafür, und noch viel mehr, haben wir Lesen gelernt.

Ein Gedanke zu „Dafür haben wir Lesen gelernt! (*)

  1. DER SPIEGEL beschäftigt sich in seiner Ausgabe 22 vom 23.5.2015 unter dem Titel „Planet Deutschland“ mit dem Thema Autoren nichtdeutscher Herkunft, die in deutscher Sprache schreiben. „Sie kommen aus Bosnien, Bulgarien, Georgien, aus der Ukraine und der Türkei, aus dem Irak oder aus Prag, ihre Muttersprache ist nicht Deutsch. Es ist die Sprache ihrer Literatur. Sie sind in die deutsche Literatur eingewandert.“ Und die Autoren des Artikels (S. 100 ff.) stellen die Frage „Was verbindet sie?“ Die befragten Schriftsteller und Schriftstellerinnen widersetzen sich in ihren Äußerungen solchen Erwartungshaltlungen. Es bestehe kein Verpflichtung Verbindendes herauszustellen oder Koalitionen zu bilden. Genauso wenig wie jene zu besonderem gesellschaftspolitischen, am besten gleich noch weltpolitischem, Engagement. Sie wollen erzählen. Ich finde, wir können uns freuen, dass die deutsche Literatur um diese wunderbaren bunten Erzähl-Stoffe und so vielfältige Stimmen und Stimmungen bereichert wird. Nicht nur auf diesem Gebiet gewinnt Deutschland durch Zuwanderung Zukunft. Besonders gefallen hat mir eine Äußerung von Katja Petrowskaja, in der sie folgende Beziehung zwischen realem Leben und Literatur herstellt: „Wir bestehen aus den Büchern, die wir gelesen haben, viel mehr als aus unseren Biografien. Die konkrete Biografie ist eine Begrenzung, das Lesen eine endlose Öffnung.“ Wir existieren schließlich alle irgendwo zwischen Dichtung und Wahrheit – bis auf jene bemitleidenswerte Minderheit, die nicht liest.

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