“Die hellen Nächte” von Hans Sahl

Gedichte aus dem Exil an einem November-Abend in Tübingen

Die jüdische Familie Salomon war um 1900 in Dresden zu Hause. Hier wurde Hans Salomon, der sich später Sahl nannte, 1902 geboren. Im Berlin der 1920er und 1930er Jahre war er einer der bekanntesten Theater- und Literaturkritiker, schrieb für die führenden Blätter, sowie Gedichte, Erzählungen und Theaterstücke. 1933 musste er aus Deutschland fliehen. Es folgten mehrere Exilstationen und eine 13-monatige Internierung in Frankreich. Schließlich gelang die Flucht nach New York, wo Sahl mit Unterbrechungen mehrere Jahrzehnte lebte. Erst 1989 kehrte er für immer nach Deutschland zurück. Fast erblindet, lies er sich in Tübingen nieder, wo er 1993 starb.

“Ich bin der Zeit und ihrem Reim entfremdet / Es hat die Zeit mir meinen Reim entwendet.”

‘Gedichte aus Frankreich’ heißt sein Zyklus “Die hellen Nächte” im Untertitel, weil diese für ihn und die anderen Leidensgenossen besonders schwere Zeit des Exils, das Leitmotiv dieser Arbeiten ist. Als Buch erschienen sie erstmals 1942 unter großen materiellen und editorischen Schwierigkeiten in einer bescheidenen Auflage von 250 Exemplaren bei Barthold Fles in New York. Es war durchaus ungewöhnlich und selten, dass in den Vereinigten Staaten ein Buch deutscher Exilanten in deutscher Sprache herauskam.

Der Bonner Verleger Stefan Weidle, hat es jetzt erfreulicherweise unternommen, diese Sammlung neu herauszugeben. Dabei folgte die Gestaltung des Bändchens weitestgehend der Erstausgabe. Den Satz und die typographische Gestaltung übernahm Friedrich Forssman, der vor zwei Jahren mit der Neuausgabe von Arno Schmidts “Zettels Traum” für einiges Aufsehen sorgte. Unterstützt wurde der Verlag vom Verband Deutscher Schriftsteller (VS) und der Verdi-Zeitschrift “KunstundKultur”. Beide waren es auch, die eine Hans-Sahl-Tagung in Tübingen organisierten, die am Wochenende 9. bis 11. November stattfand. Zum Auftakt wurde am Freitag-Abend im “Hölderlin-Turm” die Neuausgabe der Sahl-Gedichte vorgestellt.

Am Spätnachmittag dieses 9. November fuhr ich über die herbstliche Schwäbische Alb an den Neckar. Auf den Hängen der Hügel glänzten nebelfeuchte Bäume im bunten Geblätter. Vor Ort führt dann der Weg zuerst über die Neckarbrücke. In der Stadt sind überwiegend junge Menschen unterwegs. Hoffnungsvolle Zukunft in alten Gassen. Fremde Sprachen. In der Universitätsstadt leben Menschen aus vielen Ländern. Über den schmalen Weg auf der Stadtmauer komme ich zum Hölderlinturm. Vorbei an Liebespaaren, die, in vertraute Gespräche vertieft, sich in früher Nacht verborgen fühlen. Am anderen Ufer die bekannte Platanen-Allee, nur zu ahnen im Dunkel.

Die vor uns hier gingen: Schelling und Hegel, Mörike und Uhland, der arme Waiblinger, der nach Rom reiste um dort jung begraben zu werden, ganz in der Nähe von Goethes Sohn August. Hermann Hesse, von Heckenhauer kommend, ging hier entlang, Hans Mayer und Walter Jens, der seit Jahren auf der anderen Seite der Stadt vor sich hin dämmert.

Der sogenannte “Hölderlin-Turm” war einst Wohnung und Werkstatt der Tischler-Familie Zimmer. In ihrer Obhut verbrachte der Dichter Friedrich Hölderlin 37 Jahre eines Lebens, das ihm zunehmend entglitt, und in eine nicht mehr genau zu diagnostizierende geistige Erkrankung mündete. Im Erdgeschoß sind drei durchgehende Räume bestuhlt. Im mittleren wird die Musik spielen. Rasch sind alle Sitzplätze besetzt. Kurz vor halb neun herrscht bereits enges Gedränge. Die einen rufen “Fenster auf”, die anderen “Fenster zu.” Die Stimmen der Jungen tröpfeln bei offenem Fenster in den Raum. Abwechselnd atmet man stickige Wärme und schmale Frischluftfäden. Der Abend wird moderiert von Burhard Baltzer, dem Journalisten und Chefredakteur der Zeitschrift “KunstundKultur”.

“Ich werde einmal, nach dem großen Sterben, / Vor Euch, Ihr Mächtigen, mich nicht mehr bücken.”

Das sechsköpfige Ensemble – Streicher, Flöte, Klarinette und Klavier – spielt einen ersten Teil von Hanns Eislers “14 Arten, den Regen zu beschreiben.” Das Stück hat er 1941 als Musik zum gleichnamigen Film komponiert. Danach nennt Burkhard Baltzer einen Gedicht-Titel, im Raum steht eine Person auf und trägt das dazugehörige Gedicht vor. “Tübingen liest Sahl” heißt das Motto. Abwechselnd lesen junge und ältere Tübinger, Männer und Frauen. Gedichte, die ein Mensch schrieb, der seine Heimat verloren hatte, weil dort braun-schwarze Dummheit Denker und Dichter, Juden und Linke, Schwule und Roma aus dem Land oder in die Vernichtungslager getrieben hatte.

“Wer seine Verzweiflung im Exil, von seinem Trotz gepaart mit Humor und Esprit, aber auch die bedingungslose Geradlinigkeit erfuhr, war ins Mark getroffen”, schreibt Burhard Baltzer über Hans Sahl im Vorwort zu “Die hellen Nächte”. Es sind aussagestarke, realitätsverbundene Gedichte, teils in freier Form, teils in einfacheren Reimen. Manche erinnern an die Stilmittel Brechts, andere in ihrer Wut an Tucholsky.

Die Themen sind Vertreibung, Fremde, Außenseitertum, Mittellosigkeit und Verzweiflung, aber auch Liebe und Leben, Sehnsucht und Hoffnung. Sahl selbst sah seine Gedichte weder als schöne, perfekte Gebilde, noch als Ergebnisse irgendeiner experimentellen Poetologie. “Sie haben vielmehr ihren festen Ort in Biographie und Geschichte. Sie sind Sprache aus dem Fühlen, Denken und Erfahren eines Einzelnen, die zugleich zu Wort und Signal für viele wurde und sich mit vielen, über die eigene und deren Einsamkeit hinweg, verständigen wollte…” (Fritz Martini)

Was hat sich geändert in den letzten gut 70 Jahren, seit diese Gedichte geschrieben wurden? Ist die Welt heute eine andere oder haben sich nur die Schauplätze verlagert? Noch immer herrschen Vertreibung, Heimatlosigkeit, Unterdrückung, Hunger und Elend, Flucht und Folter, Hass und Krieg auf unserem Planeten. Hans Sahl war Opfer und Geretteter zugleich. Er hatte das Privileg sich ausdrücken zu können. Er hatte seine deutsche Sprache. Lebte als Dichter. Das war nicht wenig. Auch darum ging es an diesem Wochenende in Tübingen.

“Es ist der letzte Reim noch nicht gefunden / Auf diesen Jammer und auf diese Wunden.”

Samstag, der 10. November 2012. In meiner Tageszeitung entdecke ich eine kleine dpa-Meldung, die u. a. folgende Sätze enthält: „Am Jahrestag der Progromnacht haben Unbekannte in Greifswald alle im Stadtgebiet verlegten Stolpersteine (= Gedenksteine an deportierte und getötete Juden. J. H.) aus dem Straßenpflaster gebrochen. … Der Staatsschutz habe die Ermittlungen aufgenommen, sagte ein Polizeisprecher… Wegen des geschichtsträchtigen Datums werde ein politischer Hintergrund nicht ausgeschlossen.”

Sahl, Hans: Die hellen Nächte. Gedichte aus Frankreich (Neuausgabe). – Weidle Verlag, 2012